Abilene-Paradox: Warum wir mitmachen, ohne es zu wollen (2024)

Es ist ein heißer Tag im Juli 1974, als Jerry B. Harvey mit seiner Frau in Coleman, Texas, auf der Veranda sitzt und Domino spielt. Ein Ventilator surrt und eine Limonade sorgt für Abkühlung. Es hätte ein angenehmer Sonntagnachmittag werden können – doch dann schlägt sein Schwiegervater vor, zum Abendessen nach Abilene zu fahren. Harvey denkt sofort: „Was, nach Abilene fahren? Dreiundfünfzig Meilen? Bei diesem Sandsturm und dieser Hitze? Und in einem unklimatisierten 1958er Buick?“ Als seine Frau die Idee gut findet, antwortet er jedoch: „Klingt für mich auch gut. Ich hoffe nur, deine Mutter will mitfahren.“ Nachdem auch die Schwiegermutter zustimmt, macht sich die Gruppe auf den Weg.

Harveys Bedenken treten ein: Die Fahrt ist anstrengend, das Essen schlecht und vier Stunden später kehrt die Familie völlig erschöpft wieder auf die Veranda zurück. Aus Freundlichkeit bezeichnet Harvey den Ausflug als „toll“, woraufhin die Schwiegermutter gesteht, sie wäre von Anfang an lieber zuhause geblieben, sei aber mitgekommen, weil die anderen so begeistert waren. Harvey und seine Frau erklären unter Schuldzuweisungen, sie wären nur mitgekommen, um die anderen glücklich zu machen. Der Schwiegervater räumt ein, er hätte den Vorschlag überhaupt nur deshalb gemacht, weil er dachte, ihnen wäre langweilig gewesen. Die ganze Familie ist perplex – haben doch vier mündige Erwachsene freiwillig einen Ausflug gemacht, auf den keiner von ihnen Lust hatte.

Falsche Entscheidungen und verpasste Ziele

Dieses sogenannte Abilene-Paradoxon – benannt nach der Anekdote – beschreibt Jerry B. Harvey in seinem Artikel The Abilene Paradox and other Meditations on Management 1988. Er habe seit diesem Tag in Coleman zahlreiche Organisationen beobachtet, die in die gleiche Situation geraten waren. „Vereinfacht gesagt ist es so: Organisationen handeln häufig im Widerspruch zu dem, was sie eigentlich wollen, und vereiteln damit genau die Ziele, die sie zu erreichen versuchen.“

Laut Simone Kauffeld vom Lehrstuhl für Arbeits-, Organisations- und Sozialpsychologie an der TU Braunschweig zeichnet sich das Abilene-Paradox durch Passivität aus. Individuen behalten ihre private, den anderen unzugängliche Meinung in einer Entscheidungssituation für sich. „Die Gruppenmitglieder fühlen sich gezwungen, der öffentlichen Meinung zuzustimmen und entziehen sich der Verantwortung, die eine eigene Positionierung mit sich bringen würde“, sagt sie. Dadurch würden kollektiv Entscheidungen getroffen oder Handlungen angestoßen, die im Widerspruch zu dem stehen, was die Personen wirklich wollten – „wodurch sie ihr eigentliches Ziel verfehlen“. Die Kommunikation versagt, weil jedes Gruppenmitglied irrtümlicherweise davon ausgeht, dass seine Präferenzen oder Einstellungen denen der anderen Personen widersprächen.

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    Die Folge: Beschlüsse mit teils weitreichenden Konsequenzen für das Individuum und die gesamte Organisation. „Werden aufgrund von Misskommunikation unproduktive Entscheidungen getroffen, die gegen die Präferenz der Mitglieder gehen, kommt es zu Frustration, Verärgerung und einem Gefühl der Inkompetenz“, erklärt die Psychologin. Dadurch, dass sich die einzelnen Mitglieder im Moment der Entscheidung ihrer eigenen Meinung bewusst seien, erlebten sie ein Dilemma – mit dem wahrgenommenen Druck, sich der öffentlichen Meinung anzuschließen. „Diese Unzufriedenheit kann zur Bildung von Kleingruppen führen, die sich gegenseitig die Schuld zuschieben.“

    Während es im persönlichen Rahmen eher bei emotionalen Konsequenzen für das Individuum bleibt, sind die Schäden für Unternehmen, die durch solche unproduktiven Entscheidungen entstehen können, größer. „Der Zusammenhalt der Gruppe im Gesamten wird geschwächt. Darüber hinaus zeigen Gruppenmitglieder eine negative Einstellung gegenüber der Zukunft der getroffenen Entscheidung und die Führungskraft wird als inkompetent und ineffektiv wahrgenommen“, so Kauffeld. Dieser Kreislauf könne sich wiederholen und verschlimmern, wenn sich mit dieser Unfähigkeit, Entscheidungen zu organisieren, nicht beschäftigt würde.

    Das kann auch für Dritte gefährlich werden. So wird zum Beispiel im Bezug auf Patientensicherheit immer wieder diskutiert, wie man eine offene Äußerung des Klinikpersonals fördern kann. Denn oft wird bei Zweifeln an Medikation, Hygiene oder Behandlungsentscheidungen geschwiegen – zum Nachteil für den Patienten.

    Auch Jerry B. Harvey thematisiert die unterschiedlichen Konsequenzen im privaten und beruflichen Umfeld in seinem Artikel: „Und für die meisten dieser Organisationen waren die negativen Folgen (…), gemessen an menschlichem Elend und wirtschaftlichem Verlust, viel größer als für unsere kleine Abilene-Gruppe“.

    “Die Angst vor einer Trennung von der Gruppe ist der einflussreichste Faktor beim Abilene-Paradox.”

    von

    Simone Kauffeld

    Psychologin, TU Braunschweig

    Abilene-Paradox: Fehlt es uns an Courage?

    Doch warum fällt es uns so schwer, eine vermeintlich unpopuläre Meinung auszusprechen? Fehlt es uns ganz einfach an Courage? Die psychologischen Ursachen sind viel primitiver: Uns treibt die blanke Angst. „Gruppen befriedigen das menschliche Bedürfnis danach, sich zusammenzuschließen, Leistung zu erbringen und eine soziale Identität zu erlangen“, sagt Kauffeld. „Die Angst vor einer Trennung von der Gruppe ist der einflussreichste Faktor beim Abilene-Paradox.“ Die Angst davor, ausgeschlossen zu werden, führe also dazu, dass Zweifel und Alternativen nicht geäußert werden.

    Der Druck, den Normen einer Gruppe zu entsprechen, um Sympathie und Akzeptanz zu erfahren, führt bei Individuen zu „öffentlicher Konformität“ oder Compliance: Sie passen ihre Verhaltensweise der Gruppe an, ohne jedoch ihre Denkweise oder die eigentliche Präferenz zu ändern. Wir tun das, weil es soziale und informative Vorteile mit sich bringt. Bei diesem Prozess sind jene Hirnregionen aktiv, die auch bei Angst angeregt werden. Deshalb gibt es Vermutungen, dass „Personen, die ängstlicher sind und/oder den Ausschluss von der Gruppe negativer bewerten oder für wahrscheinlicher halten, eher die eigene Meinung verschweigen“, so die Psychologin.

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    Speaking-Up: Maßnahmen ergreifen

    Beim Abilene-Paradox liegt die Verantwortung für potentielle Fehlentscheidungen bei den Individuen. Für Unternehmen oder andere Gruppen gilt deshalb: Wenn es vermieden werden soll, müssen Maßnahmen bei den jeweiligen Beteiligten ansetzen. Neben dem Bewusstmachen, dass es das Abilene-Paradox gibt, sollte die Offenheit in der Kommunikation und das Eingeständnis der eigenen Meinung gefördert werden. „Das Einfordern und das Annehmen von Feedback können in diesem Rahmen eine besonders wichtige Rolle spielen“, erklärt Kauffeld. Zudem muss eine Speak-Up Kultur etabliert werden, das heißt eine Umgebung geschaffen werden, in der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter keine Angst vor negativen Konsequenzen verspüren und offen kommunizieren können. Eine Google-Untersuchung kam zu dem Schluss, dass diese „psychological safety“ der wichtigste Faktor für den Erfolg eines Teams bildet. Das kann auch für kleinere Gruppen gelten, zum Beispiel Familien.

    Durch das Übernehmen von Verantwortung könnte uns im besten Fall nicht nur ein fürchterlicher Nachmittag erspart bleiben: Wir könnten auch bessere Entscheidungen treffen, die individuell zufriedenstellen und für die Gruppe, die Gesellschaft oder das Unternehmen positive Folgen haben.

    Abilene-Paradox: Warum wir mitmachen, ohne es zu wollen (2024)
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